Mit zitternden Händen öffnet Claire das kleine Notizbuch. Elises geschwungene Handschrift fällt ihr sofort ins Auge. „15. Oktober 1950. Ich habe Angst. Papa hat mich hier eingesperrt und gesagt, ich komme erst wieder raus, wenn ich weiß, wie man sich benimmt.“ Die Worte treffen sie wie ein Schlag. Sie liest es noch einmal, unfähig zu glauben, was sie entdeckt, als würde jeder Satz das Bild des perfekten Ehemanns weiter zerstören.
Seite für Seite erzählt Elise von den Tagen in ihrem Versteck, von den regelmäßigen Besuchen ihres Vaters, den Versprechen „guten Benehmens“ und der Sehnsucht, ihre Mutter wiederzusehen. Die Jahre scheinen sich zwischen diesen Zeilen zu entfalten: Wir sehen an die Wand gezeichnete Größenmarkierungen, Träume von Abschlussbällen, vereitelte Fluchtversuche. Eine ganze Jugend, eingesperrt auf wenigen Quadratmetern.
Für Claire ist jedes Wort ein Schock. Wie konnte sie nichts bemerkt haben? Wie konnte sie mit einem Mann unter einem Dach leben, der dieses Doppelleben so akribisch geplant hatte? Zwischen Schuldgefühlen und Wut kristallisiert sich dennoch eine Gewissheit heraus: Elise wollte tief in ihrem Herzen gefunden werden. Mit diesem Tagebuch hinterließ sie eine Spur, der man folgen kann.
Von der geheimen Tür zum Beginn eines neuen Lebens

Als Elise Jahre nach ihrem Verschwinden endlich gefunden wird, ist sie nicht mehr das unbeschwerte Mädchen von den Fotos, sondern eine junge Frau, die entschlossen ist, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Gemeinsam mit ihrer Mutter begibt sie sich auf einen langen Weg der Therapie, der Suche nach Gerechtigkeit und des Wiederaufbaus ihres Lebens. Ihre Geschichte wird so zu einer Quelle der Kraft, um anderen Opfern zu helfen.
